Abschuss führender Alttiere im Kanton Tessin

Jagd und Tierschutz

(Bild: Dr. W. Kornder) So deutlich sieht man das Gesäuge wohl nur in einem Rotwildgatter.
(Bild: Dr. W. Kornder) So deutlich sieht man das Gesäuge wohl nur in einem Rotwildgatter.

Verstärkter Muttertierschutz und seine Folgen 

 

Gerade in den letzten Jahren wurde der Muttertierschutz bei der Alttierbejagung des  Rotwildes in Bayern von einem Tierschutzverband und einem Naturschutzverband  zunehmend in den Mittelpunkt gerückt. Völlig zurecht wird dabei mit der langen Bindung von Rotwildkälbern zur Rotwildkuh und den Folgen beim Abschuss des Alttieres argumentiert. Aufgrund dieser nunmehr höheren Hürden, deren Überschreitung verschiedentlich schon strafrechtliche Verfahren nach sich zog, wird es praktisch zunehmend unmöglich, die vielerorts zu hohen bayerischen Rotwildbestände zu regulieren. Bei intensiver Bejagung am Ansitz, wo man die Alttiere noch am besten ansprechen könnte, wird das sehr lernfähige Rotwild schließlich „unsichtbar“. Bei den Bewegungsjagden kann man oft nicht sicher entscheiden, ob das anwechselnde Stück führend oder nicht führend, das Kalb bereits erlegt oder nur versprengt ist. Obwohl niemand wissentlich ein führendes Stück erlegen will, wird der Abschuss damit zu einem Spagat zwischen notwendiger Reduktion und dem Strafgesetz. 

 

Wiederholt kam es inzwischen durch traditionsgeleitete Mitjäger zu Anzeigen. Da niemand wegen des Muttertierschutzes mit dem Strafrecht konfrontiert werden will, unterbleibt immer häufiger der Abschuss. In der Folge wird es praktisch unmöglich, die aufgrund der damit einhergehenden Schäden im Wald, besonders im Schutzwald, zu verhindern. Kurzum: Das Pochen auf den Tierschutz hinsichtlich der Muttertierbindung führt in Bezug auf den zu schützenden Wald in eine Sackgasse, in Bezug auf klassische Trophäenjagd allerdings zu einem Eldorado anwachsender Rotwildbestände. 

 

Erstes Umdenken in Tessin 

 

Es wäre ja verwunderlich, wenn die Problematik zu hoher Rotwildbestände auf Bayern beschränkt sein sollte. Seit Jahren verfolge ich die Ausbreitung des Rotwildes in angrenzenden Ländern. In Südtirol, auch in Teilen Österreichs und besonders in der Schweiz gibt es enorm hohe Rotwildbestände, die vor allem im Wald entsprechende Schäden verursachen. In diesen Gebieten wächst langsam die Einsicht, dass dieser Zustand so nicht geduldet werden kann. So wurde die Ausbreitung des Rotwildes in der Schweiz bereits seit Jahren kritisch kommentiert und schon 2015 Rekordbestände beim Rotwild festgestellt (Rekordbestände beim Rotwild: Reicht die Wildschaden-Vergütung?). 

 

Auf diesem Hintergrund hat sich der Kanton Tessin nun entschlossen, den Abschuss führender Alttiere zu lockern: „Der Kanton erlaubt zum Schutz von Wald und Weinbergen, Hirsche mit Jungen abzuschießen. Der Tierschutz reagiert scharf.  

Der Aufschrei von Seiten des Tierschutzes war zu erwarten, wenn auch die Argumentation überzogen erscheint, da man offensichtlich zwingend vom Tod der Kälber ausgeht. Die Behörden verleugnen die Tierschutzproblematik nicht, verweisen aber auf die Dringlichkeit der Rotwildreduktion: „«Der Abschuss der Hirschkuh ist nicht ideal. Wenn wir aber die riesigen Schäden sehen, die die Hirsche für die Bauern und die Bäume anrichten, können wir nicht anders. Wir müssen die Zahl der Hirsche verringern. Darum mussten wir zu dieser problematischen Lösung greifen», sagt Andrea Stampanoni vom Tessiner Amt für Jagd und Fischerei.“ Deshalb dürfen die Jäger nur ab einer bestimmten Höhenlage und während der 5-Tagesfrist – es herrscht das Patentjagdsystem - je nur eine säugende Hirschkuh erlegen. Es kommt einer Bankrotterklärung der dortigen Jägerschaft gleich, wenn seitens der Verwaltung derartige Entscheidungen getroffen werden müssen. Nicht zu vergessen ist dabei aber auch ein offensichtlich völlig überfordertes Jagdsystem, wie es im Tessin gültig ist.

 

Lösungen? 

 

Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland handelt sich um den klassischen Konflikt zweier gemäß Grundgesetz (Art. 20a GG) sehr hoch angesiedelter Rechtsgüter, dem Schutz „der natürlichen Lebensgrundlagen“ und „der Tiere“ – ohne Zweifel ein schwieriger Balanceakt!  

Wer diese Problematik nicht in den Blick nimmt, einfach ignoriert oder verdrängt, verhält sich hochgradig ideologisch. Wer nur einseitig für die Tiere Partei ergreift, ebenso. Die Suche nach Lösungen unabdingbar und diese Suche muss realitätsgerecht erfolgen. 

 

Wie ich schon mehrmals veröffentlichte, wäre im bayerischen Raum der Abschuss in Vorgattern der Wintergatter eine tierschutzgerechte, saubere Lösung (z.B. www.wolfgang-kornder.de, abgedruckt in der ÖkoJagd 4-2015 S. 35 – 37). Die Bayerischen Staatsforsten unterhalten etwa 27 Wintergatter, daneben gibt es noch private. Rotwild kann hier durch sichere Schüsse, am besten mit Schalldämpfern aus geringer Nähe auf den Kopf, tierschutzgerecht getötet werden, ohne dass dies zu Panik oder anderen gravierenden Beunruhigungen führt. Es gibt keine Verwechslungen, keine angeschossenen Tiere, die leiden müssen, weil man sie nicht findet, keine verwaisten Kälber … Im NP Bayerischer Wald wird der Abschuss von Rotwild im Vorgatter seit Ende der 80ger Jahre auf diese Weise erfolgreich und tierschutzgerecht durchgeführt. 

Zudem  wird auch immer bewusster, dass die Rotwildkälber nach der Brunft verstärkt durch Äsung Nahrung zu sich nehmen und schwerpunktmäßig nicht mehr nur von der Muttermilch abhängig sind, so dass Fehlabschüsse bei weitem nicht die gravierenden Folgen haben, wie vor der Brunft, auch wenn die verwaisten Kälber durch die soziale Ausgrenzung Nachteile in der Entwicklung zeigen, vielleicht kümmern. 

 

Ich darf in diesem Zusammenhang auf die Verhältnismäßigkeit im Tierschutz hinweisen: Während Ratten, hochentwickelte Tiere wie das Rotwild, in unseren Kommunen unselektiv mit Gift reduziert werden dürfen und eine Differenzierung nach trächtigen oder säugenden Muttertieren grundsätzlich gar nicht möglich ist, gelten beim Rotwild offensichtlich ganz andere Grundsätze. Ich frage mich zudem, wie es bislang auch von Tierschutzseite weitgehend unwidersprochen möglich sein kann, dass z.B. Wildkaninchen das ganze Jahr über bejagt werden dürfen und die Muttertierproblematik hierbei offensichtlich keine Rolle spielt. Warum sind die Maßstäbe bei einer trophäentragenden Tierart so grundverschieden anders? Und wie will man das Schwarzwild angesichts der Afrikanischen Schweinepest reduzieren, wenn wie beim Alttierabschuss jede führende Bache angezeigt wird? 

 

Wir möchten nochmals betonen, dass wir die Entscheidung der Behörden im Tessin durchaus kritisch sehen. Und es wird sich zeigen, ob die Ausnahmeregelung im Tessin Bestand hat oder gekippt wird. Aber ganz egal wie das ausgeht, muss eine Lösung für die durch zu hohe Rotwildbestände bedingten gravierenden Schäden gefunden werden und zwar eine für alle Seiten praktikable und realisierbare Lösung.

 

 

Dr. Wolfgang Kornder 

(1. Vorsitzender ÖJV Bayern)