Der Wolf belebt die Hirtenkultur

(Ein Beitrag aus der Schweiz)

 

David Gerke, Schafzüchter und ehemaliger Schafhirte auf der Schweizer Alp, bringt immer wieder unkonventionelle, aber sehr interessante Gedanken in die Diskussion. Er hat auf unserem Hunting4future – Onlineseminar „Wald(um)bau, Rotwild und der Wolf“ am 20. Okt. 2021 zu dem Thema „Wer Hirsche sät, wird Wölfe ernten“ referiert und damit die  Schalenwilddichten in den Fokus gerückt und damit die Verantwortung der Jagd. In der neuen Züricher Zeitung (NZZ) ist nun sein Gastkommentar „Der Wolf belebt die Hirtenkultur“ erschienen, den wir hier bringen und zur Diskussion stellen. Er stellt darin die Wölfe in den großen Zusammenhang des Artenschutzes und spricht diesmal vor allem die Schafhalter, aber auch  Staat und Gesellschaft an. Wenn das für die Schweiz ein Weg sein sollte, muss es doch auch in Deutschland möglich sein.

 

Dr. W. Kornder

(1.  Vorsitzender ÖJV Bayern) 

 

Mit freundlicher Genehmigung der Neuen Züricher Zeitung, auch hier abrufbar.


Der Wolf geht wieder um – und das Abendland steht am Rande des Abgrundes. Dieser Eindruck zumindest entsteht, wenn man jüngsten Verlautbarungen Glauben schenkt. So ist es aber nicht, im Gegenteil. Die überhöhten Wildbestände gefährden heute den Umbau unserer Forste hin zu CO2-senkenden Schutzwäldern, weil sie den Jungwuchs auffressen. Mit dem Wolf kommt der wichtigste Regulator unser Wildbestände zurück. 

 

Ohne die verständlichen Sorgen der Schäfer leugnen zu wollen: Für die Schafhaltung ist der Wolf offenbar tragbar. Es mag erstaunen, doch die Realität ist, dass die Zahl der Schafe in der Schweiz seit Jahren stetig zu nimmt. Zwischen 2016 und 2021 hat sich ihre Zahl von 340.000 auf 350.000 Stück erhöht – 10.000 Schafe mehr in lediglich fünf Jahren. Noch in meinem Geburtsjahr, 1985, gab es lediglich 271.000 Schafe. Die Zahl der gesömmerten Schafe ist seit zehn Jahren etwa stabil. Es ist also mitnichten so, dass die Schafhaltung wegen dem Wolf kurz vor dem Kollaps steht. Nein, die Schafhaltung floriert – Dank guten Marktpreise, Förderung der öffentlichen Hand und bestechenden Vorteile der Schafhaltung. 

 

Schafe sind sympathisch, sozial und genügsam. Letzteres ist ein Grund, weshalb sie vermehrt gehalten werden. Sie kommen mit kargem Futter von wenig produktiven Flächen gut zurecht und pflegen so die Landschaft. Aber auch als Schäfer sage ich: Schafromantik ist fehl am Platz. So wertvoll Schafe richtig gehalten in tiefen und mittleren Lagen sind, so problematisch sind sie frei weidend auf den Alpen. Frei weidende Schafe nutzen bevorzugt die höchsten, exponierten Lagen mit der empfindlichsten Vegetation und können sie so schädigen. Erosion und Artverlust sind die Folgen. 

 

Hier hilft der Wolf. Er zwingt dazu, dass zu den Alpschafen geschaut wird und die konsequente Herdenführung umgesetzt wird. Der Wolf belebt damit die Hirtenkultur. Ein französischer Schäfer, der seit vielen Jahren im Wolfsgebiet wirkt, meinte dazu: “Der Wolf hat den Hirten ihren Platz zurück gegeben.“ Ohne Weideführung verbuschen und verwalden Lagen, die die Schafe nicht beweiden wollen. Nicht ohne Grund geschah die grossflächige Wiederverwaldung des Alpenraumes ausgerechnet im 20. Jahrhundert, dem Jahrhundert ohne Wölfe. Denn ohne Wolf fehlten auch die Hirten, die für die Weideführung verantwortlich gewesen wären. 

 

Wir leben in einer Zeit des globalen Artensterbens und des Biodiversitätsverlusts. Wenige gerettete Arten stehen zahlreichen bedrohten gegenüber. Der Wolf gehört glücklicherweise zu denjenigen Arten, die der Artenschutz gerettet hat. Dass nun unverhohlen gefordert wird, man solle den Wolfsbestand dorthin zurück schiessen, wo er vor wenigen Jahrzehnten noch war, ist ein Affront. Artenschutz als gesellschaftliche Verpflichtung besteht nicht darin, Wildtiere aufgrund von Partikularinteressen knapp am Rande des Aussterbens zu halten, sondern lebensfähige, vitale Bestände in den geeigneten Lebensräumen zu erhalten. 

 

Es spricht nichts gegen einen pragmatischen Umgang mit dem Wolf. Wenn aber gefordert wird, dass man hierzulande den Wolf gefälligst bekämpfen solle, weil er ja nicht bedroht sei, ist das anmaßend. Denn der Wolf ist in Europa nur deshalb nicht mehr akut bedroht, weil die Länder Süd- und Osteuropas lebensfähige Bestände aufweisen. Also genau diejenigen Länder, wo die Bauern wirklich arm sind. Die armen Länder sollen also den Artenschutz gewährleisten, damit wir als eine der reichsten Nationen Konfliktarten wegschießen können? Das ist unfair. Wer, wenn nicht die reiche Schweiz, kann es sich leisten, mit konfliktträchtigen Wildtieren zusammen zu leben? 

 

David Gerke ist Geschäftsführer der Gruppe Wolf Schweiz, war lange Jahre als Schafhirte z'Alp, und ist heute Schafzüchter und Jäger. 

 

(Bild: Dr. W. Kornder) Durch die Ausrottung der großen Beutegreifer war Schafhaltung Jahrhunderte lang ohne Schutzmaßnahmen und teils ohne Behirtung möglich.
(Bild: Dr. W. Kornder) Durch die Ausrottung der großen Beutegreifer war Schafhaltung Jahrhunderte lang ohne Schutzmaßnahmen und teils ohne Behirtung möglich.

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